18,00 €

MVB 93: „Altblockflöte für Erwachsene“ Band 3

Oft gewünscht und lange erwartet: ein kurzweiliges Lehrbuch für das Spielen auf der Altblockflöte für Erwachsene - sowohl für Einsteiger als auch für Wiedereinsteiger konzipiert. In 3 Bänden führt der Weg durch 15 Kapitel mit insgesamt 150 ansprechenden, durchgehend 2-stimmigen Musikstücken von Kunst- und Volksmusik verschiedener Epochen und Herkunftsländer - eine wahre Fundgrube für Musikfreunde, die nicht dogmatisch ausschließlich nur originale Blockflötenmusik spielen möchten. Akkordangaben sowie Liedtexte unter den Noten ermöglichen auch ein gemeinsames Musizieren. Abschnitte über akustische Phänomene, über den Bau der Blockflöte und deren Tonentstehung, über interessante musikbezogene Themen, über die Epochen der Musikgeschichte und die verschiedenen historischen Tänze, Angaben und Hilfen zu Interpretation und Aufführung sowie musikalische Gedankengänge bis hin zu philosophischen Betrachtungen über die Musik und ihre Bedeutung in den verschiedenen Kulturen sind hochinteressant und für Erwachsene zugeschnitten.

Die 3 Bände MVB 91-93 sind mit den 3 Bänden MVB 41-43 in der Literaturauswahl weitgehend identisch. In MVB 41-43 werden etliche Sätze sowohl in normalen Violinschlüssel als auch im oktavierten Violinschlüssel notiert, um die sog. „oktavierte Notation“ zu üben. Diese Übungen entfallen in MVB 91-93 zugunsten interessanter Informationen zur Musik, zur Blockflöte und ihrer Spielweise.
zu Band 1 zu Band 2
nach oben zurück zur Übersicht „Schulwerke"
Vorwort
„Altblockflöte für Erwachsene“ richtet sich an Erwachsene und an Jugendliche, an Einsteiger und an Wiedereinsteiger und eignet sich sowohl zum Selbststudium alleine oder in einer Gruppe als auch für den Unterricht mit einer Lehrkraft. Musikalische und musiktheoretische Grundbegriffe werden behandelt, soweit sie für das Verstehen des Notentextes notwendig sind. Im Vordergrund steht jedoch nicht ein abstraktes Wissen sondern das praktische Musizieren.

Die lebendigen Anweisungen einer guten Lehrkraft kann eine geschriebene Instrumentalschule nicht ersetzen. Die stete behutsame Korrektur von Haltung, Atmung und Tonbildung sowie eine Schulung des Gefühls für melodische, rhythmische und harmonische Abläufe sowie für die gesamte musikalische Empfindung und Gestaltung ist sicher die optimale Schulung. Dennoch ist es das Ziel der drei Bände „Altblockflöte für Erwachsene“, Material für ein Musizieren auf der Altblockflöte zu bieten, das motiviert und neugierig macht, das über das bloß richtige Spielen hinaus zugleich auch das aktive musikalische Gestalten sucht. Dabei ist eine Einengung auf die originale Blockflötenliteratur zunächst nicht sinnvoll, denn gerade das anfängliche Musizieren gewinnt sein Leben aus dem Kennenlernen der verschiedenen Stilrichtungen, aus dem Kontakt zu unterschiedlichen Musikkulturen. „Altblockflöte für Erwachsene“ bietet in drei Bänden Etüden und insgesamt 150 Musikstücke für das Spielen vom ersten Flötenton bis zur Interpretation anspruchsvoller Barocksonaten. Für eigene individuelle Übungen und kleine Kompositionen stehen in den Bänden 1 und 2 jeweils auf den Seiten 46 und 47 leere Notensysteme zur Verfügung. Weitere Literatur bietet das „Neue Spielbuch für zwei Altblockflöten“ (MVB 37), das parallel zu diesen Bänden aufgebaut ist, sowie die vier ebenso progressiv angeordneten Bände mit alter Musik „Ausgewählte Duette für 2 Altblockflöten“ (MVB 17-20), die alle im gleichen Verlag erschienen sind.

Die verschiedenen Formen der Artikulation werden bewusst erst im zweiten Band ausführlich behandelt. Bis dahin ist das klangliche Ziel das „Nonlegato“, bei dem die Töne leicht voneinander abgesetzt werden. Selbstverständlich können und sollten auch schon vorher die vielen Stufen zwischen kurzem „Staccato“ und breitem „Portato“ sowie zwischen einem harten und weichen Zungenstoß ausprobiert werden, um unterschiedliche Artikulationen und musikalische Aussagen zu realisieren (s. Band 2, Seite 26).

Das wirkliche „Legato“ (Folgetöne ganz ohne Zungenstoß) ist dagegen nicht typisch für die Blockflöte und kann zunächst zurückgestellt werden. Daher wird bei Liedern auf den Bindebogen über mehreren Tönen, die einer einzelnen Silbe zugeordnet sind, auch verzichtet.

Die progressive Anordung in der technischen Schwierigkeit der Musikstücke wird öfters bewusst unterbrochen. An diesen Stellen ist vermehrt auf ein flüssiges Tempo, auf differen-zierte Tongestaltung und auf musikalischen Ausdruck zu achten. Musikalische Gestaltung kann erst bei Überlegenheit über den technischen Problemen beginnen. Bewusst fehlen allerdings Angaben zur musikalischen Interpre-tation, um den Spieler in seinem persönlichen künstlerischen Ausdruck nicht einzuschränken. Dabei gilt immer: auch das einfachste Stück tonlich sauber und musikalisch überzeugend darzustellen ist schwer. Auch die Verzierungen werden aus dem selben Grund erst verhältnis-mäßig spät in einem etwas fortgeschrittenen Stadium behandelt (s. Band 2, Seite 10). Sie sollen die Interpretation beleben, auf keinen Fall den musikalischen Fluss hemmen. Es steht selbstverständlich frei, hierfür auch einen etwas früheren oder späteren Zeitpunkt zu wählen.

Die Blockflöte kann in natürlicher, aufrechter Haltung sowohl im Sitzen als auch im Stehen gespielt werden. Beim Sitzen ist darauf zu achten, dass beide Fußflächen Kontakt zum Boden haben. Wenn auch der Flötenton zunächst eine schwingende Luftsäule ist (s. Band 1, Seite 17), so geht der Klang dennoch auch durch die Füße des Spielers. Die Gesamthaltung des Spielers sollte entspannt sein, die Schultern hängen locker, die Ellbogen werden nicht gegen den Oberkörper gepresst, aber auch nicht unnatürlich angehoben, der Kopf wird hoch genommen („Horizontblick“). Die Noten stehen auf dem unentbehrlichen Notenständer mindestens einen Meter entfernt in Augenhöhe. Auf keinen Fall liegen sie flach auf dem Tisch, so dass man sich beim Spielen nach vorne beugen müsste.

Die Atmung beachten zu müssen und sich mit ihr beschäftigen zu müssen ist ein großer Vorteil (!) eines Blasinstruments. Zunächst atmen wir nicht, weil wir keine Luft mehr haben, sondern grundsätzlich nur zur Gliederung des Stückes. Jeder Instrumentalist atmet am Anfang eines Musikstücks oder eines Abschnitts ein, so auch der Bläser, der sich dies bewusst macht. Wichtig ist also nicht die Frage, wie weit ich mit einem Atemzug komme, sondern dass ich das Atmen der Länge des folgenden Abschnitts, vor allem aber dem Charakter des Musikstückes anpasse (schneller Satz - schnelles Atmen, ruhiger Satz - ruhiges Atmen). Da hierfür eine musikalische Vorstellung des Folgenden notwendig ist, sollte dies z.B. beim Einsatzgeben gleich mitgeübt werden. Wir atmen stets durch den Mund!

Der für eine beherrschte Atmung, für das Ausströmen der Luft und damit für die Tongebung verantwortliche Muskel ist das Zwerchfell. Es ist wie eine Kuppel gewölbt und trennt Bauch- und Brustraum voneinander. Beim Einatmen wird die Kuppel abgeflacht, die Bauchmuskulatur dehnt sich, der Bauch wird fühlbar und sichtbar dicker. Beim Ausatmen zieht sich die Bauchdecke wieder zusammen, das Zwerchfell wölbt sich wieder. Es „stützt“ dabei den Luftstrom und kontrolliert ihn. Die Vorstellung des aktiven „Atmens“ kann zu einem Einatmen der Luft in den oberen Teil der Lunge führen, wodurch sich die Schultern anheben. Dann jedoch ist der Kontakt zum Zwerchfell nicht vorhanden und eine Führung des Luftstroms ist nicht möglich. Besser ist die Vorstellung, die Luft in den unteren Teil der Lunge „einströmen“ zu lassen.

A) Übungen zur Lockerung des Zwerchfells:
1. bei geöffnetem Mund hecheln wie ein Hund;
2. „tsch tsch tsch“ wie die alte Dampfeisenbahn.

B) Übungen zum Einströmen der Luft:
1. durch die Nase den Duft einer Blume sanft und genießerisch einströmen lassen;
2. freudig überrascht die Luft durch den Mund einfallen lassen, was die normale Flötenatmung ist (die Bauchdecke wölbt sich nach vorne).

C) Übungen zur Führung des Atems:
1. die Samenfäden einer Pusteblume mit einem langen gleichmäßigen Blasen wegpusten;
2. mit einem geraden Luftstrom die Flamme einer Kerze anpusten, so dass sie sich neigt, nicht aber ausgeht.

Atemübungen sollten in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Sie bieten neben dem Erfolg des richtigen Atmens die Möglichkeit, physisch und psychisch zur Ruhe zu kommen. Für das Spielen auf der Blockflöte ist die Beherrschung des Atems nicht nur die Grundlage für die Schönheit des musikalischen Tons, sondern beeinflusst auch die gesamte musikalische Gestaltung. Richtiges Atmen wirkt sich darüber hinaus sogar positiv auf scheinbar rein fingertechnische Abläufe aus. So ist der folgende Ablauf einer Übungseinheit sinnvoll:

1) Entspannungs- bzw. Atemübung;
2) Tonleiter- und Dreiklangsübung;
3) Übungsstücke (Etüden);
4) Musikliteratur oder Vortragsstücke.

Das Zusammenspiel ist eine Grundidee der vorliegenden Schulwerks. Hierdurch werden von Anfang an die Partner mit einbezogen, und das Erlebnis des eigenen Musizierens wird als Teil eines Ganzen gefördert. Einzelne Stimmen können selbstverständlich auch von anderen Instrumenten übernommen werden. Neben einer Offenheit für das musikalische Gesamtgeschehen beinhaltet das Zusammenspiel weitere wichtige Übungen: zunächst müssen die beteiligten Instrumente auf die gleiche Stimmhöhe gebracht werden. Dabei muss der einzelne Stimmton ohne Wackeln und mit der gleichen Blasintensität geblasen werden, mit der das folgende Stück gespielt wird. Bei Altblockflöten wird möglichst nach dem d'' der tiefsten Flöte gestimmt. Die anderen Flöten werden durch Ausdrehen des Kopfstückes angepasst. Weitere für das betreffende Musikstück wichtige Töne (Anfangs- oder Schlusston usw.) sollten verglichen werden. Spielen Instrumente mit fixer Tonhöhe mit (z.B. Klavier, Cembalo, Akkordeon), geben diese den Stimmton an. Gitarren oder Streichinstrumente richten sich nach der Blockflöte. Das Stimmen der Instrumente sollte als Hörübung sehr aufmerksam verfolgt werden.

Das Vorspiel bietet die Möglichkeit, anderen ein musikalisches Geschenk zu bereiten, welches nicht unbedingt „große“ Werke beinhalten muss. Solistisch oder in der Gruppe wird ein Stück vorgetragen, das deutlich leichter als der letzte technische Stand ist. So braucht keine übertriebene Aufregung aufzukommen, zumal ja zur Freude der Zuhörer musiziert (nicht exerziert) wird. Neben dem Alltagskompromiss, mit dem ein Musikstück nach einiger Zeit als genügend gekonnt abgelegt wird, bietet das Vorspiel die Möglichkeit, zur besseren Ausarbeitung auch einmal länger bei einer Komposition zu verweilen. Vorgespielt wird grundsätzlich im Stehen, wobei der Notenständer etwas tiefer als beim Üben gestellt wird, damit der Klang über den Notenständer in den Raum gehen kann.

Die Blockflöte ist äußerlich zunächst ein recht unscheinbares Instrument. Sie hat jedoch eine lange Tradition als wertvolles Instrument der Volks- und Kunstmusik (s. Band 1, Seite 37).

Freude und Erfolg beim Musizieren wünscht
Johannes Bornmann
Epilog
In seiner Einleitung zum „Entwurf einer Farbenlehre“1) bezieht sich Goethe auf die Philosophen der ionischen Schule und auf den Mystiker Jakob Böhme, welche die Auffassung vertraten, dass Gleiches nur von Gleichem erkannt werden könne, und da das Wesen der Menschen tief innerlich verwachsen sei mit dem Wesen der Welt, könnten wir den Ursprung der Dinge erkennen, weil wir selbst etwas mit diesem Ursprung Verwandtes in uns hätten. Goethe drückt dies hier mit folgendem bekannten Reim aus:

„Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eig’ne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“

Wie Goethe in seiner Farbenlehre den Bezug der Disposition des Menschen zum Licht herstellt, so stellt Pythagoras, der wohl bekannteste unter den ionischen Naturphilosophen, diesen zu der Musik her. Und er liefert gleich den Beweis: die Musik ist in den Zahlenproportionen, welche sich in den Frequenzverhältnissen ihrer Intervalle spiegeln (s. Bd. 2, S. 8), ein Abbild sowohl des Menschen als auch des ganzen Universums. Ja, er folgert hieraus sogar die Sphärenharmonie, dass die ganze Welt klingt und stellt damit einen Zusammenhang zwischen Weltbild und Musik dar, wobei er die irdische Musik als Abbild der himmlischen, geistigen Musik betrachtet, welche auch im Menschen vorhanden sei (s. Bd. 1, S. 22). „Sie ist gleichen Wesens mit der Harmonie der Sphären“
2) bestätigen nicht nur die Schüler der pythagoreischen Schule, „denn wie alles Bewegte Töne erzeugt, so auch die Himmelskörper durch ihre Bewegung“3), und „gleich den Gestirnen des Himmels befindet sich auch die menschliche Seele in einer beständigen, nach bestimmten Zahlenwerten geordneten Bewegung“4). Diese Zahlenwerte, so beweist Pythagoras, sind die Grundlage unserer irdischen Musik, die damit ein Abbild ist sowohl der kosmischen Geschehnisse als auch des menschlichen Wesenskerns. „Die Lehre ist also die,“ bestätigt Quintilianus „dass die Seele eine Art Harmonie sei, und zwar eine Harmonie auf Grund von Zahlen. Daher erregt sicherlich die musikalische Harmonie, die aus denselben Verhältnissen besteht, ... auch die wesensgleichen Seelenbewegungen.“5) Wenn aber die menschliche Seele auf die Intervalle der Musik gleichsam abgestimmt ist, „so ist es nur zu natürlich, auch der Seele der Welt ein musiktheoretisches Prinzip als Aufbau zu geben.“6) „Die erscheinende Welt und die Musik sind als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache anzusehen.“7)

Tatsächlich ist es ja wirklich bemerkenswert, dass die Proportionen unserer Musikintervalle - vornehmlich der konsonanten und wohlklingenden Intervalle - den verschiedenen Naturreichen Stein, Pflanze, Tier und Mensch zugrunde liegen und diese durchdringen. Dieses Wissen der Antike wurde uns zunächst durch die Studien der „Sieben freien Künste“ (lat. septem artes liberales) - hier der „musica“ - an den mittelalterlichen Domschulen in die Neuzeit überbracht und konnte dann vom naturwissenschaftlichen Denken bis in unsere Zeit immer wieder neu überprüft und bestätigt werden. Johannes Kepler (1571-1630) war wohl der erste Wissenschaftler, der sein Lebenswerk in den Dienst der Erforschung einer „Weltenharmonie“ stellte. Sein Hauptwerk „Harmonices mundi“ (die Weltharmonik) bezeichnet er selbst als das Werk, das von der himmlischen Harmonie handelt, als anklingend an Pythagoras und Plato und kommt darauf in seinem Vorspruch zum dritten Buch mit folgenden Worten zurück: „Die Philosophie von Pythagoras verbirgt hinter den mathematischen Begriffen wie hinter einem Vorhang die Einführung in die Mysterien der göttlichen Lehren.“
8) Tatsächlich sind die nach ihm benannten Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung mehr ein „Nebenprodukt“ seines Hauptanliegens der Beweisführung einer Weltenharmonie.

Besonders interessant erscheint hier, dass seit der Antike auch die von Menschen geschaffenen Kunstwerke, welche die Seele „berühren“, musikalischen Proportionen entsprechen. Im Bereich der Architektur ist schon der berühmte Tempel zu Paestum in seinen Abmessungen durch und durch harmonisch, und man denkt spontan an Goethes Worte aus „Faust II“: „Der Säulenschaft und die Triglyphe klingt, ich glaube gar, der ganze Tempel singt.“ Für die weiteren Bereiche der bildenden Kunst trifft Ähnliches zu. Ein sehr erstaunliches Phänomen aus dem Bereich der Malerei ist die Tatsache, dass die Wellenlängen von Farben, deren „Zusammenklang“ nachweislich von der Mehrheit als angenehm empfunden wird, musikalischen Proportionen entsprechen. In der Musik selbst sind Zahlenproportionen im Aufbau von Musikwerken großer Komponisten, insbesondere J. S. Bachs, so bekannt, dass mit den diesbezüglichen Schriften ganze Bibliotheken gefüllt werden könnten. Vor allem aber: das Empfinden von Zahlenproportionen ist nicht auf unsere westliche Kultur beschränkt, sondern überall auf der Welt gleich! Im Bereich der Musik kommen hier immer wieder die Einwände wie: die Instrumente z.B. des Gamelan-Orchesters in Java oder Bali seien doch nicht nach unseren Intervallen, sondern für unser westliches Ohr falsch gestimmt. Tatsächlich sind die dort verwendeten Klangplatten teils in unterschiedlichen „fremden“ Schwingungsverhältnissen gestimmt und üben dadurch einen ganz besonderen Reiz aus. Ebenso bringen die in Indien verwendeten Mikrointervalle (die sog. „Shrutis“) zusätzliche Spannung mit sich. Beim Singen jedoch hält man sich sowohl in Indien als auch in Indonesien an unser Tonsystem. Die Inder haben sogar in Anlehnung an unsere Silben der Solmisation „Do, Re, Mi, Fa, Sol, La, Ti“ die entsprechenden Silben „Sa, Ri, Ga, Ma, Pa, Dha, Ni“.

Ob man nun das Verhältnis zweier Töne oder auch ihren Zusammenklang als harmonisch im Sinne von angenehm, in sich ruhend bzw. konsonant oder aber als unharmonisch im Sinne von unangenehm, nach einer Auflösung suchend bzw. dissonant bezeichnet, ist mehr eine Frage der geschichtlichen Entwicklung. Von jeher wurden Zusammenklänge von Tönen, die eine einfache Zahlenproportion haben, als konsonant betrachtet; je komplizierter aber die Proportion, desto dissonanter wurde stets ein Zusammenklang bezeichnet. Im Laufe unserer geschichtlichen Entwicklung hat sich die Empfindung für ein harmonisches Verhältnis zweier Töne in Richtung der komplizierten Proportionen verschoben, so dass heute durchaus sogar Sekundschritte als konsonant empfunden werden.

Was seit Pythagoras in der westlichen Philosophie erkannt wurde, haben Naturvölker seit jeher gespürt. Als Urkraft erkannt, spielte darum die Musik auch eine wesentliche Rolle bei den Praktiken der Medizinmänner, der Schamanen, in Exorzismen von Primitiven. Dabei zeigt sich, dass die elementaren Wirkungen von Musik Völker auf naiver Bildungsstufe in weit höherem Grade ergreifen als diejenigen, welche bereits über Musik reflektieren.
9). Dies ist eine einfache Tatsache, die Experten auf allen künstlerischen Gebieten nachempfinden können: die Analyse der Gedanken kann das einfache Sich-Hingeben durchaus verhindern. Für das Erleben von Musik bedeutet das: Dem Kenner fällt es oft schwer, Musik einfach nur zu genießen.

Die „musikalische Weltordnung“ stimmt mit den Schöpfungsgeschichten der verschiedenen Kulturen überein. Daher verwundert es nicht, dass sowohl in den alten Hochkulturen als auch bei den heutigen Naturvölkern mit erstaunlicher Übereinstimmung ein quasi musikalisches Weltbild existiert, genauer gesagt, dass die Welt aus Klängen entstanden sei. Die Mythen stellen die Urschwingung, den Urknall, den Urrhythmus, den Urton, das Wort u.a. an den Anfang ihrer Schöpfungsgeschichten. So steht in Java am Anfang der Schöpfungsgeschichte ein göttliches Wesen, das sich durch Glockentöne kund gibt. Bei den kalifornischen Urvölkern Achomai und Atsugewi lässt der Schöpfergott ein Stück Erde, das er in Händen hält, durch sein Singen wachsen. Die islamische Sufi-Tradition spricht von Schwingungen am Schöpfungsbeginn. Die indischen Upanishaden erklären den Klang als die in allen Dingen und Wesen gemeinsame Ursubstanz. In vielen Darstellungen wird der Urklang als „Wort“ bezeichnet, wovon u.a. der Anfang des Johannes-Evangeliums Zeugnis gibt. Am Anfang des chinesischen Weltbildes entsteht durch Verschiebung der kosmischen Prinzipien Yang und Yin der Donner, eine andere Version des Urklangs.

Dennoch: Wenn wir auch die akustischen Gegebenheiten der klingenden Musik verstehen und sie in Bezug zum Menschen und zum Universum setzen können, so können wir ebenso wenig wie den Ursprung des Menschen und des Universums den der Musik auf der logischen Ebene des Wortes begreifen. „Eine vollständige, ins Einzel gehende Erklärung der Musik, also eine ausführliche Wiederholung dessen, was sie ausdrückt in Begriffen, würde sofort auch eine genügende Erklärung des Welt in Begriffen, also die wahre Philosophie sein.“
10) Damit schließt sich der Kreis zu unserer chinesischen Parabel in Band 1 auf S. 18, denn auch hier kann der Meister zur tieferen Erklärung des Phänomens Musik seinem Jünger nur mitteilen: „Aber hinter alldem steht noch eine treibende Kraft, die macht, dass jene Klänge sich enden und dass alle sich erheben. Diese treibende Kraft: wer ist es?“

Johannes Bornmann

1) Goethes Werke 35. Teil, Naturw. Schriften, hrsg. von R. Steiner, Stgt. 1890, 3. Bd., Entwurf einer Farbenlehre, S. 88
2) Lange, A. v.: Mensch, Musik und Kosmos, 2 Bd., Freiburg 1956 und 1968, S.16
3) Haase, R.: Grundlagen der harmonikalen Symbolik, München 1966, S. 5
4) Lange, A. v.: Mensch, Musik und Kosmos, 2 Bd., Freiburg 1956 und 1968, S. 30
5) Quintilianus: Von der Musik (hrsg. von R. Schäfke), Berlin 1937
6) Haase, R.: Geschichte des harmonikalen Pythagoreismus, Wien 1969, S. 12
7) Hübscher, A. (Hrsg.): Schopenhauer-Register, Stuttgart 1960, 2. Aufl.
8) Bindel, E.: Pythagoras, Stuttgart 1962, S. 188
9) Abert, H.: Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik, Leipzig 1899, S. 1
10) Hübscher, A. (Hrsg.): Schopenhauer-Register, Stuttgart 1960, 2. Aufl., S. 28
nach oben zurück zur Übersicht „Schulwerke"